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WBP NEWS

Online-News für den 01.06.2020

Verwaltungsrecht

Vorkaufsrecht nur im Ermessen der Gemeinde
Die Klägerin schloss über ein in einem förmlichen Sanierungsgebiet gelegenes Grundstück einen Kaufvertrag ab. Sie beabsichtigt, in dem dort befindlichen leerstehenden Einkaufsmarkt ein Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft zu eröffnen. Auf dem Grundstück sollen nach dem der Sanierungssatzung der Gemeinde zugrunde gelegten Stadtentwicklungskonzept hingegen Parkplätze zur Entlastung des Ortskerns vom ruhenden Verkehr geschaffen werden. Unter Hinweis auf dieses Ziel übte die Gemeinde gegenüber dem Grundstücksverkäufer das Vorkaufsrecht aus. Nach einem erfolglosen Widerspruchsverfahren erhob die Käuferin Klage und machte u.a. geltend, der Bescheid über das Vorkaufsrecht biete keine Anhaltspunkte für eine Ermessensbetätigung der beklagten Gemeinde. Es fehle an einer Abwägung der sich gegenüberstehenden öffentlichen und privaten Interessen. Das Verwaltungsgericht gab der Klage statt.
Die Entscheidung der Gemeinde über die Ausübung des Vorkaufsrechts leide an einem Ermessensausfall. Der angegriffene Bescheid lasse keinerlei Ermessenserwägungen zu den betroffenen widerstreitenden öffentlichen und privaten Belangen erkennen und verwende den Begriff „Ermessen“ auch nicht. Er wiederhole lediglich nahezu wortwörtlich das Ziel des Stadtentwicklungskonzepts zur Schaffung von Parkplätzen. Anlass, sich mit der Planung eines Einzelhandelsgeschäfts durch die Grundstückserwerberin auseinanderzusetzen, habe aber auch deshalb bestanden, weil mit dem Sanierungskonzept auch der Erhalt und die Stärkung des Einzelhandels im Ortskern verfolgt werde. Eine Abwägungsentscheidung des Gemeinderats lasse sich auch nicht den Protokollen über die Gespräche mit der Klägerin zur Vorstellung ihrer Geschäftsidee entnehmen. Eine Ermessensbetätigung sei schließlich nicht im Widerspruchsbescheid vorgenommen worden. Dieser wiederhole lediglich die Ausführungen des Bescheids und interpretiere diesen dahingehend, dass mit ihm Ermessen ausgeübt worden sei. (VG Mainz, Urt. v. 06.05.2020 – 3 K 532/19)

Abstract: Der Gemeinde steht bei der Geltendmachung eines Vorkaufsrechts anlässlich des Kaufs eines Grundstücks ein Ermessen zu, dessen Ausübung in der Entscheidung über das Vorkaufsrecht auch zum Ausdruck kommen muss.

Steuerrecht

Supermarkt-Rabattmodell „Mitgliedschaft“ unterliegt umsatzsteuerrechtlich dem Regelsteuersatz
Die Klägerin betrieb im Jahr 2010 mehrere Bio-Supermärkte in einer deutschen Großstadt unter einer gemeinsamen Dachmarke. In den Märkten konnten Kunden entweder die Waren zum Normalpreis oder verbilligt als „Mitglied“ einkaufen. Für die „Mitgliedschaft“ zahlten die Kunden einen monatlichen festen Beitrag (je nach Einkommen und Familienstand zwischen ca. 10 € und ca. 20 €). Die Klägerin ging davon aus, dass der Mitgliedsbeitrag ein Entgelt für die späteren Warenverkäufe sei. Die Einräumung der Rabattberechtigung sei als notwendiger Zwischenschritt des Warenverkaufs anzusehen und damit eine Nebenleistung. Da die rabattierten Warenlieferungen zu über 81% dem ermäßigten Steuersatz unterlagen (z.B. für Lebensmittelverkäufe), teilte die Klägerin auch die Mitgliedsbeiträge entsprechend nach beiden Steuersätzen auf. Finanzamt und Finanzgericht hingegen gingen davon aus, dass die eingeräumte Rabattberechtigung als selbstständige Leistung in vollem Umfang dem Regelsteuersatz unterliege.
Diese Auffassung hat der BFH bestätigt: Soweit die Zahlung für die Bereitschaft der Klägerin gezahlt worden sei, Waren verbilligt zu liefern, habe die Klägerin eine selbstständige Leistung erbracht, an der die Kunden ein gesondertes Interesse gehabt hätten. Ein monatlicher pauschaler Mitgliedsbeitrag sei insbesondere keine Anzahlung auf künftige Warenlieferungen, da das „Ob und Wie“ der künftigen Lieferungen bei Abschluss der „Mitgliedschaft“ nicht hinreichend bestimmt sei. Das Urteil des BFH hat wirtschaftlich zur Folge, dass sich die Kosten des Supermarktbetreibers für das von ihm angebotene Rabattmodell erhöhen. Der Verbraucher ist nicht unmittelbar betroffen. Keine Aussage hat der BFH zu anderen Rabatt-Modellen getroffen, bei denen z.B. der Mitgliedsbeitrag vom Umsatz des Kunden abhängt oder mit dem Kaufpreis der Waren verrechnet wird. Auch musste der BFH nicht entscheiden, ob der Fall anders zu beurteilen gewesen wäre, wenn sich der Rabatt nur auf Waren bezogen hätte, die dem ermäßigten Steuersatz von 7% unterliegen. (BFH, Urt. v. 18.12.2019 – XI R 21/18)

Abstract: Die entgeltliche Einräumung einer Berechtigung zum verbilligten Warenbezug (in Form einer „Mitgliedschaft“) stellt umsatzsteuerrechtlich eine selbstständige Leistung und nicht nur eine Nebenleistung zum späteren Warenverkauf dar. Auch wenn der Supermarkt Waren verkauft, die sowohl dem Regelsteuersatz (19%) als auch dem ermäßigten Steuersatz (7%) unterliegen, ist auf den Mitgliedsbeitrag der Regelsteuersatz anzuwenden.

Arbeitsrecht

Grenzen der tariflichen Regelungsmacht – Ansprüche nur bei „arbeitsvertraglicher Nachvollziehung“ eines Tarifwerks
Der Arbeitsvertrag der bei der Beklagten beschäftigten Klägerin, die Mitglied der IG Metall ist, enthält keine Bezugnahme auf Tarifverträge. Die Beklagte war zunächst nicht tarifgebunden, schloss aber im Jahr 2015 mit der IG Metall einen Mantel- und einen Entgeltrahmentarifvertrag, nach denen „Ansprüche aus diesem Tarifvertrag [voraus]setzen …, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird“. Dazu sollte eine Bezugnahmeklausel mit dem Inhalt vereinbart werden, dass sich das Arbeitsverhältnis „nach dem jeweils für den Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers … geltenden Tarifwerk“ richtet. Das Angebot zum Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages, der u. a. eine Bezugnahmeklausel entsprechend den tarifvertraglichen Regelungen vorsah, nahm die Klägerin nicht an. Mit der vorliegenden Klage verlangt sie die Zahlung von Differenzentgelt auf der Grundlage der Bestimmungen des Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrags. Das ArbG hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Das LAG hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. Der Klägerin stehen schon aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit Ansprüche aus den Tarifverträgen zu. Diese können nicht von den vorgesehenen individualrechtlichen Umsetzungsmaßnahmen der Arbeitsvertragsparteien abhängig gemacht werden (§ 4 Abs. 1 TVG). Auch das durch § 4 Abs. 3 TVG geschützte Günstigkeitsprinzip steht einer solchen Regelung entgegen. Die tarifvertraglichen Bestimmungen, die eine „arbeitsvertragliche Nachvollziehung“ verlangen, sind daher unwirksam. (BAG, Urt. v. 13.05.2020 – 4 AZR 489/19)

Abstract: Die Parteien eines Tarifvertrags können in diesem nicht wirksam vereinbaren, dass Ansprüche aus dem Tarifvertrag trotz beiderseitiger Tarifgebundenheit nur dann bestehen sollen, wenn die Arbeitsvertragsparteien die Einführung des Tarifwerks durch eine Bezugnahmeklausel auch individualvertraglich nachvollziehen. Eine solche Bestimmung liegt außerhalb der tariflichen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien.

Zivilrecht

Fußgänger mit Getränkekiste müssen Gehweg im Blick behalten
Der Kläger nahm die Stadt aufgrund eines Sturzereignisses auf Zahlung von Schmerzensgeld in Anspruch. Er trug vor, auf einem Gehweg wegen einer Unebenheit gestürzt zu sein. Dabei habe er eine Mittelhandfraktur erlitten, deren Folgen ihm noch heute zu schaffen machten. Die Unebenheit auf dem Gehweg habe er nicht sehen können, weil er eine Getränkekiste getragen habe. Der Boden sei an der Sturzstelle etwas abschüssig und weise auf einer Länge von 30 cm einen Höhenunterschied von mehr als 4 cm auf. Der Stadt sei der schlechte Zustand des Gehwegs durch Beschwerden von Anwohnern bekannt. Mit Urt. v. 29.10.2019 hatte das LG die Klage zurückgewiesen. Nachdem das OLG mit Beschluss vom 19.02.2020 darauf hingewiesen hatte, dass die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil keine Aussicht auf Erfolg habe, hat er das Rechtsmittel mit Beschluss vom 08.04.2020 zurückgewiesen.
Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, die von dem Kläger selbst vorgelegten Lichtbilder und vorgetragenen Umstände ließen keine für ihn bei Benutzung des Gehwegs nicht erkennbare und nicht mehr beherrschbare Gefahrenquelle erkennen. Vielmehr habe dort eine großflächige leichte Mulde mit zahlreichen höherstehenden Pflastersteinen bestanden. Etwa 10 nebeneinanderliegende Pflastersteine hätten eine Kante gebildet, über die der Kläger nach seinem Vortrag gestolpert sei. Diese Kante sei jedoch für Fußgänger bei Anwendung durchschnittlicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit sowohl erkennbar als auch beherrschbar gewesen. Es sei nicht nachvollziehbar, warum er diese Kante zu keinem Zeitpunkt gesehen habe. Der vor dem Bauch getragene Getränkekasten genüge insoweit auch in Anbetracht der Länge des bis zum Sturz zurückgelegten Weges nicht als Rechtfertigung dafür, dass der Kläger die Unebenheit nicht habe erkennen können. Zu irgendeinem Zeitpunkt auf der zurückgelegten Strecke hätte er als aufmerksamer und sorgfältiger Fußgänger den von ihm zu überwindenden Weg überblicken können und müssen. (OLG Köln, Beschl. v. 08.04.2020 – 7 U 298/19)

Abstract: Ein Fußgänger muss sich den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet. Er kann keine vollständige Gefahrlosigkeit erwarten und muss mit gewissen Unebenheiten rechnen. Dies gilt auch, wenn er einen sperrigen Gegenstand, wie eine Getränkekiste, trägt und hierdurch seine Sicht beeinträchtigt wird.