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WBP NEWS

Online-News für den 01.03.2023

Zivilrecht

Geringfügige Belehrungsfehler können Verstoß gegen Treu und Glauben bei Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 5a VVG a.F. begründen
Die Klägerin machte aus behauptet abgetretenem Recht Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung fondsgebundener Lebens- und Rentenversicherungsverträge geltend. Diese Verträge wurden zwischen den jeweiligen Versicherungsnehmern und der Beklagten mit Versicherungsbeginn zum 01.11. und 01.12.2002 nach dem sog. Policenmodell des § 5a VVG a.F. abgeschlossen. Die Versicherungsnehmer kündigten die Verträge 2016 und 2017 und erklärten jeweils 2018 den Widerspruch nach § 5a VVG a.F. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Geltendmachung des Rückabwicklungsanspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Ein vorrangiges schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers in den Fortbestand des Vertrags komme in Betracht, wenn Umstände vorlägen, die den Schluss darauf zuließen, dass der Versicherungsnehmer auch in Kenntnis seines Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten hätte. Dies sei hier der Fall. Der Fehler der Belehrung über die einzuhaltende Schriftform anstelle der ausreichenden Textform für die Widerspruchserklärung könne die Versicherungsnehmer nicht ernsthaft von der Ausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der bei ordnungsgemäßer Belehrung geltenden Frist abgehalten haben.
Der BGH hat entschieden, dass die Ausübung des Widerspruchsrechts gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt, wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben,denn dies stellt eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des Versicherers zur ordnungsgemäßen Belehrung dar. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht dies für den hier zu beurteilenden Fall angenommen, in dem den Versicherungsnehmern die unrichtige Information über ein Recht zum schriftlichen Widerspruch erteilt wurde, obwohl nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 01.08.2001 gültigen Fassung ein Widerspruch in Textform genügte. Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts in diesem Fall steht auch in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urt. v. 19.12.2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU: C:2019:1123 = NJW 2020, 667), sodass eine Vorlage an diesen nicht veranlasst war. Dass der EuGH hiervon mit seinem Urt. v. 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40) abweichen wollte, ist nicht ersichtlich. Diese Entscheidung bezieht sich auf Fälle, in denen eine der in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.04.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133 S. 66) vorgesehenen zwingenden Angaben fehlt. Insoweit äußert sich der EuGH zu der von ihm im Versicherungsvertragsrecht vorgenommenen Differenzierung nach der Bedeutung des Belehrungsmangels nicht. Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebensversicherungsrichtlinien der Europäischen Union unvereinbar ist, war ferner nicht entscheidungserheblich. Auch im Fall einer unterstellten Unionswidrigkeit des Policenmodells ist es dem – im Wesentlichen – ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehlerhaftigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten. Zum Einwand von Treu und Glauben war eine Vorlage an den EuGH ebenfalls nicht erforderlich. Die Maßstäbe für dessen Berücksichtigung sind in der Rechtsprechung des EuGH geklärt und die Annahme rechtsmissbräuchlichen Verhaltens steht in Fällen wie dem vorliegenden damit in Einklang. Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Ausführungen des EuGH zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a. aaO). Für den Bereich der Lebensversicherungen hat der EuGH festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzelnen regeln können. Das gilt sowohl für die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung als auch für die Richtlinien 2002/83/EG und die Solvabilität II-Richtlinie. Dabei müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleistet ist (vgl. EuGH, Urt. v. 19.12.2019, Rust-Hackner u.a. aaO). Diese Rechtsprechung hat der EuGH im Anschluss an seine Entscheidung v. 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a. aaO) für die Rechtsfolgen der Nichterfüllung oder der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der in den Richtlinien vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des Versicherungsnehmers auf Rücktritt vom Versicherungsvertrag bestätigt (vgl. EuGH, Urt. v. 24.02.2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 zur Richtlinie 2002/83/EG). Damit kommt es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen hier nicht an, sondern im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinien ist ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zulässig, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien – wie hier – nicht beeinträchtigt wird. (BGH, Urt. v. 15.02.2023 – IV ZR 353/21)

Abstract: Ein Bereicherungsanspruch ist jedenfalls nach § 242 BGB wegen rechtsmissbräuchlicher Ausübung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (nachfolgend: a.F.) ausgeschlossen, weil den Versicherungsnehmern durch den im Streitfall geringfügigen Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen worden ist, ihr Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben.

Steuerrecht

Besteuerung eines Promotionsstipendiums
Die Klägerin promovierte an einer Universität im Bundesland X. Zwecks Förderung akademischer Nachwuchskräfte wurde die Klägerin während ihrer Promotionszeit aus den Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) mit monatlich 800 € unterstützt. Nach Maßgabe der Vergabebedingungen beteiligte sich ein in X ansässiges privatwirtschaftliches Unternehmen in gleicher Höhe an der Finanzierung des Promotionsvorhabens und zahlte der Klägerin somit ebenfalls monatlich 800 €. Die Klägerin war verpflichtet, ihre Arbeitskraft ausschließlich der Promotion zu widmen und hierüber Nachweise zu erbringen. Zudem unterlag sie hinsichtlich der Ergebnisse ihres Promotionsprojekts einer fünfjährigen Ausübungs- und Verwertungspflicht in X. Das Finanzamt (FA) besteuerte den aus Mitteln des ESF gezahlten Teil des Stipendiums nicht. Die vom Unternehmen bezogenen Zuwendungen sah das FA dagegen als steuerbare und steuerpflichtige sonstige Einkünfte an. Die Klage hatte keinen Erfolg.
Der BFH hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache an das Finanzgericht (FG) zurück. Dem BFH genügten die vom FG bislang getroffenen Feststellungen nicht, um abschließend zu entscheiden, ob die gesamten – miteinander verknüpften – Leistungen aus dem Stipendium einem Steuertatbestand unterliegen. Die im Streitfall einzig in Betracht zu ziehenden Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen gemäß § 22 Nr. 1 Satz 1 Halbsatz 1 EStG setzten voraus, dass die Klägerin für die Gewährung der Leistungen aus dem Stipendium eine – wie auch immer geartete – wirtschaftliche Gegenleistung hätte erbringen müssen. Zwar stellte der BFH klar, dass die von der Klägerin für die Promotion aufgewandte Arbeitszeit keine relevante Gegenleistung gewesen sei. Weiterer Sachaufklärung durch das FG bedürfe aber, ob die im Zusammenhang mit der Förderung von Promotionen jedenfalls nicht allgemeinübliche Pflicht, die aus dem Vorhaben gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb einer bestimmten Frist ausschließlich im Geber-Bundesland beruflich zu verwerten, als wirtschaftliche Gegenleistung oder als bloße Erwartungshaltung einzustufen sei. Eine Steuerbefreiung gemäß § 3 Nr. 44 EStG könne nur hinsichtlich des aus dem ESF finanzierten Teils des Stipendiums gewährt werden. Soweit der Klägerin in gleicher Höhe von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen Zahlungen zugeflossen seien, handele es sich nicht um öffentliche Mittel im Sinne dieser Vorschrift. (BFH, Urt. v. 28.09.2022 – X R 21/20)

Abstract: Leistungen aus einem Promotionsstipendium können der Einkommensteuer unterliegen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der Stipendiat eine wirtschaftliche Gegenleistung zu erbringen hat und keine Steuerbefreiungsvorschrift eingreift.

Sozialrecht

Weg zum Getränkeautomaten unfallversichert
Eine Verwaltungsangestellte rutschte auf dem Weg zu dem im Sozialraum des Finanzamtes aufgestellten Getränkeautomaten auf nassem Boden aus und erlitt einen Lendenwirbelbruch. Die Verletzte beantragte, dies als Arbeitsunfall anzuerkennen. Der Weg zum Getränkeautomaten sei während ihrer Arbeitszeit unfallversichert. Die Unfallkasse Hessen lehnte den Antrag ab. Der Versicherungsschutz ende regelmäßig mit dem Durchschreiten der Kantinentür.
Das Hessische LSG gab der verunglückten Frau Recht. Der Sturz sei als Arbeitsunfall anzuerkennen. Das Zurücklegen des Weges, um sich einen Kaffee an einem im Betriebsgebäude aufgestellten Automaten zu holen, habe im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit der Angestellten gestanden. Sei ein Beschäftigter auf dem Weg, um sich Nahrungsmittel zum alsbaldigen Verzehr zu besorgen, sei er grundsätzlich gesetzlich unfallversichert. Beim Kauf von Lebensmitteln für den häuslichen Bereich seien die insoweit zurückgelegten Wege hingegen nicht versichert. Ebenso sei die Nahrungsaufnahme selbst dem privaten Lebensbereich zuzurechnen und daher grundsätzlich nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Der Unfallversicherungsschutz auf dem Weg zum Getränkeautomaten ende auch nicht an der Tür des Sozialraums, der sich innerhalb des Betriebsgebäudes befinde. Dieser Raum gehöre eindeutig in den Verantwortungsbereich des Arbeitgebers. Darüber hinaus sei der Sozialraum zum Zeitpunkt des Unfalls auch nicht als Kantine bzw. zur Nahrungsaufnahme genutzt worden. (Hess. LSG, Urt. v. 07.02.2023 – L 3 U 202/21; Rev. zugelassen)

Abstract: Ein Sturz beim Kaffee-Holen ist als Arbeitsunfall anzuerkennen. Anders als die dem privaten Lebensbereich zuzurechnende Nahrungsaufnahme selbst, ist das Zurücklegen eines Weges, um sich Nahrungsmittel zu besorgen, grundsätzlich versichert. Verletzt sich ein Versicherter auf dem Weg zum Getränkeautomaten, ist dies als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Zivilrecht

Ein Halter trägt Verantwortung für ein Tier als Mitgeschöpf
Der damals 24 Jahre alte Wallach des Klägers hatte im Sommer 2019 einen wirtschaftlichen Wert von etwa 300 € – ein Sachverständiger beschrieb ihn als „Weidekameraden“, der als „Gesellschafter“ für andere Pferde diene. Dieser Wallach floh damals vor einem Hund, der auf die Pferdekoppel gelaufen war und das Pferd anschließend bis in den nächsten Ort verfolgte. Dabei stürzte das Pferd mehrfach und verletzte sich schwer. Der Kläger ließ es für mehr als 14.000 € in einer Tierklinik operieren. Bereits das LG hatte die Halterin des Hundes verurteilt, diese Behandlungskosten zu tragen.
Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen. Das OLG entschied zunächst, dass die Hundehalterin den gesamten Schaden ersetzen muss, obwohl der Schaden auch auf den eigenen Fluchtinstinkt des Pferdes zurückzuführen war. Das Pferd hatte nicht etwa bloß aufgrund eines kurzen Erschreckens gescheut und war dann weggelaufen. Vielmehr wurde es von dem Hund über die Koppel, über den Weidezaun und weiter auf der Straße bis in die nächste Ortschaft „auf das Äußerste“ getrieben. Diese von dem Hund ausgehende Gefahr überwog den eigenen Verursachungsbeitrag durch das Pferd deutlich. Weiter entschied der Senat, dass die Behandlungskosten vollständig zu ersetzen sind, obwohl sie den wirtschaftlichen Wert des Tieres um das 49-fache überstiegen. Aufgrund der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf und schmerzempfindliches Lebewesen verbietet sich eine streng wirtschaftliche Betrachtungsweise. Vielmehr sind sämtliche Umstände abzuwägen, unter anderem die Erfolgsaussichten der Behandlung, das Alter des Tieres und die Beziehung des Halters zu ihm. Hier war der Wallach das erste Pferd, das der Kläger erworben hatte und zu dem er von Anfang an eine besonders enge Bindung hat. Der Kläger hat das Pferd kurz nach dessen Geburt gekauft und auf ihm das Reiten erlernt. Auch nach seiner aktiven Reiterzeit hat er das Pferd weiter behalten und als Beistellpferd genutzt. Das Pferd war vor dem Unfall in einem sehr guten Zustand. (OLG Celle, Urt. v. 15.02.2023 – 20 U 36/20; nrkr)

Abstract: Ein Tier mag wirtschaftlich nur wenig wert sein. Wird es verletzt, kann es sein, dass der Schädiger Behandlungskosten zu ersetzen hat, die den Wert des Tieres um ein Vielfaches übersteigen.

Justizstatistik

2021 wurden rund 662.100 Personen von deutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, waren das rund 37 200 beziehungsweise 5,3 % Verurteilte weniger als im Vorjahr. Damit setzte sich die seit Jahren tendenziell rückläufige Entwicklung der Zahl an Verurteilungen fort. Wegen Straßenverkehrsdelikten wurden 2021 insgesamt 157.500 Personen verurteilt. Das waren zwar rund 10.500 weniger Verurteilte als im Vorjahr, allerdings blieb der Anteil an allen Verurteilungen mit 23,8 % ähnlich hoch wie im Vorjahr (24,0 %). Als Verkehrsdelikte zählen keine Ordnungswidrigkeiten wie Falschparken, sondern ausschließlich Straftaten im Straßenverkehr, die im Strafgesetzbuch (StGB) oder im Straßenverkehrsgesetz (StVG) geregelt sind. Beispielsweise gab es 27.800 Verurteilungen wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort, 10.100 Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung und 500 Verurteilungen wegen fahrlässiger Tötung.