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WBP NEWS

Online-News für den 15.09.2024

Zivilrecht

Mithaftung nicht angeschnallter Mitfahrer für Verletzungen von Fahrzeuginsassen
Am 15.09.2018 gegen 22:15 Uhr befuhr der Versicherungsnehmer der Klägerin mit seinem Pkw Audi die Landstraße 121 in Höhe der Überquerung der BAB. Er war stark alkoholisiert (Blutalkoholkonzentration: 1,76 Promille) und fuhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit (150 bis 160 km/h statt zulässiger 70 km/h). Ihm kam der mit drei Insassinnen besetzte Pkw entgegen, auf dessen Beifahrersitz die damals 36 Jahre alte Geschädigte saß und hinter der sich auf der Rückbank die nicht angeschnallte 38-jährige Beklagte befand. Der Pkw Audi kam von der Fahrbahn ab und stieß mit dem anderen Pkw zusammen, wobei die Versicherungsnehmerin der Klägerin verstarb und die Insassen des anderen Fahrzeugs schwere Verletzungen erlitten. Die Klägerin nimmt die Beklagte als behauptete Mitverursacherin der Verletzungen der Geschädigten auf Erstattung von 70% der von ihr bisher an diese in sechsstelliger Höhe erbrachten Leistungen sowie für künftige Zahlungen in Anspruch. Sie verweist auf Sachverständigengutachten, wonach die Nichteinhaltung der Gurtpflicht durch die Beklagte dazu geführt habe, dass deren Knie im Zeitpunkt des Aufpralls in die Rückenlehne des Beifahrersitzes eingedrungen seien und erhebliche Verletzungen der Geschädigten im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Brustkorbs verursacht hätten.
Das OLG hat die Berufung der klagenden Versicherung gegen das klageabweisende Urteil des LG zurückgewiesen und dadurch die Ablehnung einer Mithaftung der Beklagten für die unfallbedingten Verletzungen der Geschädigten bestätigt. Die von § 21a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StVO geregelte Gurtpflicht stelle zwar eine drittschützende Norm i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB dar, weil die Fahrzeuginsassen gerade auch vor den Folgen der Verletzung durch nicht angeschnallte andere Mitfahrer bewahrt werden sollten. Der BGH gehe von einem Mitverschulden des Geschädigten bei Verletzung der eigenen Gurtpflicht aus. Es gelte aber auch für Verletzungen anderer Fahrzeuginsassen. Die gesetzliche Begründung für die Einführung der Gurtpflicht auf den Vordersitzen aus dem Jahre 1975 stelle darauf ab, dass gerade auch aus Zusammenstößen von Fahrzeuginsassen erhebliche Gefahren herrührten. Die Gurtpflicht sei im darauffolgenden Jahrzehnt auf sämtliche Fahrzeuginsassen ausgedehnt und bußgeldbewehrt worden. Das vom Senat zugrunde gelegte, weite Verständnis des Schutzzwecks der Gurtpflicht diene der Verkehrssicherheit und dem Schutz der individuellen Rechte aller Verkehrsteilnehmer; es stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG sowie anderer Obergerichte zur Bußgeldbewehrung der Gurtpflicht. Ebenso füge es sich in das haftungsrechtliche Gesamtsystem ein. Der Senat hat jedoch offengelassen, ob bei dem vorliegenden Unfall die Knie der Beklagten in die Rückenlehne des Beifahrersitzes eingedrungen waren und dies zu den Wirbelsäulenverletzungen der Geschädigten geführt hatte. Angesichts des strafwürdigen, grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Verhalten des Versicherungsnehmers der Klägerin trete eine mögliche Mithaftung der nicht angeschnallten Beklagten zurück. Hierzu hat der Senat auf die von der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Höhe der Mithaftung des Verletzten bei Nichteinhaltung der Gurtpflicht im Falle eigener Verletzungen zurückgegriffen und ist von einem vergleichbaren Ausnahmefall ausgegangen. (OLG Köln, Urt. v. 27.08.2024 – 3 U 81/23; nrkr.)

Abstract: Fahrzeuginsassen, die entgegen der Gurtpflicht gemäß § 21a Abs. 1 StVO nicht angeschnallt sind und dadurch andere Mitfahrer verletzen, können selbst haftbar gemacht werden. Bei der gesetzlichen Gurtpflicht handele sich um eine Norm, die auch die anderen Fahrzeuginsassen schützen solle. Eine Mithaftung wird abgelehnt, weil der Gurtpflichtverstoß gegenüber dem erheblichen Verschulden des stark alkoholisierten und die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschreitenden Versicherungsnehmers der Klägerin vollständig zurücktrete.

Steuerrecht

Keine Relevanz der Unternehmensidentität bei einer Kapitalgesellschaft für die Feststellung eines im Wege der Anwachsung von einer Personengesellschaft übernommenen Gewerbeverlusts
Die klagende GmbH hatte als Gesamtrechtsnachfolgerin einer GmbH & Co. KG im Jahr 2011 deren Gewerbeverlust übernommen. Auslöser der Gesamtrechtsnachfolge war eine durch eine Verschmelzung verursachte Anwachsung des KG-Vermögens. Die Klägerin führte den Betrieb der KG zunächst weiter. In den Feststellungsbescheiden zum vortragsfähigen Gewerbeverlust auf den 31.12.2011 und 31.12.2012 blieb der zum 31.12.2010 festgestellte Gewerbeverlust der KG bei der Klägerin erhalten. Zweifelhaft wurde dies im Streitjahr 2013, in dem sie ihr operatives Geschäft durch Übertragung aller Vermögenswerte (Asset Deal) veräußerte. Im Anschluss an eine Außenprüfung betrachtete das Finanzamt (FA) den von der KG herrührenden Gewerbeverlust bei der Klägerin als untergegangen und erließ entsprechende Änderungsbescheide. Das FG gab der von der Klägerin erhobenen Klage statt.
Der BFH hat das Urteil des FG bestätigt und die Revision des FA als unbegründet zurückgewiesen. Es bestehe keine Grundlage für das vom FA bejahte Entfallen des bei der GmbH nach der Anwachsung ununterscheidbar festgestellten Gewerbeverlusts. Insbesondere gehe eine solche weder aus § 10a des GewStG noch aus § 2 Abs. 2 Satz 1 GewStG hervor. Von dem Grundsatz der Unerheblichkeit der Unternehmensidentität bei einer Kapitalgesellschaft sei nach geltendem Recht auch im Anschluss an eine Anwachsung keine Ausnahme zu machen. Die Veräußerung des von der KG übernommenen Geschäftsbetriebs habe nichts daran geändert, dass die bei der Klägerin verbliebene andere Unternehmenstätigkeit nach § 2 Abs. 2 Abs. 1 GewStG weiterhin in vollem Umfang als einheitlicher und zugleich identischer Gewerbebetrieb galt. Um zu dem vom FA gewünschten Entfallen des von der KG übernommenen Gewerbeverlusts bei der GmbH zu gelangen, bedürfte es sowohl in materiellrechtlicher als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht einer näheren Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. (BFH, Urt. v. 25.04.2024 – III R 30/21)

Abstract: Ein ursprünglich im Betrieb einer Personengesellschaft entstandener und durch Anwachsung auf eine Kapitalgesellschaft übergegangener Gewerbeverlust entfällt nicht dadurch, dass die Kapitalgesellschaft den verlustverursachenden Geschäftsbereich im Wege eines Asset Deals weiterveräußert.

Arbeitsrecht

Unwirksamkeit von Betriebsratsbeschlüssen bei Umgehung des gesetzlichen Minderheitsschutzes
In dem vom LAG entschiedenen Fall hatte der frisch gewählte Betriebsrat unmittelbar nach seiner Konstituierung kurzfristig nacheinander alle nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählten Mitglieder einer Minderheitsliste bis zur Erschöpfung dieser Liste abberufen und sodann mit einfachen Mehrheitsbeschlüssen durch Vertreter der Mehrheitsliste ersetzt. Das LAG hat Beschlüsse eines Betriebsrats, mit denen er Mitglieder einer Minderheitsliste aus dem Betriebsausschuss und aus der Freistellung von ihrer beruflichen Tätigkeit abberufen und durch Mitglieder der Mehrheitsliste ersetzt hatte, für unwirksam erklärt. Es hat damit die vorausgegangene Entscheidung des ArbG bestätigt. Gemäß § 27 BetrVG werden die weiteren Mitglieder des Betriebsausschusses, der in größeren Unternehmen die laufenden Geschäfte des Betriebsrats führt, vom Betriebsrat aus seiner Mitte in geheimer Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Gleiches gilt gemäß § 38 BetrVG für die freizustellenden Betriebsratsmitglieder. So soll nach dem Willen des Gesetzgebers sichergestellt werden, dass eine Minderheitsgruppierung innerhalb des Betriebsrats entsprechend ihrer Stärke berücksichtigt wird und von der Mehrheit im Betriebsrat nicht übergangen werden kann. Die Abberufung der Gewählten ist durch einen in geheimer Abstimmung gefassten Beschluss des Betriebsrats mit einer Dreiviertelmehrheit möglich. Ist in einem solchen Fall die Minderheitenliste erschöpft, kann das ersatzweise in den Betriebsausschuss zu entsendende bzw. freizustellende Betriebsratsmitglied im Wege der Mehrheitswahl gewählt werden. Die einzelnen Abberufungs- und Wahlvorgänge verstießen nach Ansicht des LAG zwar für sich betrachtet nicht gegen gesetzliche Vorschriften. Die Vorgänge stellten jedoch einen einheitlichen Sachverhalt dar, der bei der gebotenen Gesamtbetrachtung eine Umgehung des gesetzlichen Minderheitsschutzes bewirke und damit zur Nichtigkeit der einzelnen Teilakte führe. Dass die Abberufungsbeschlüsse mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit getroffen worden seien, ändere daran nichts. Trotz dieses Quorums werde der vom Gesetzgeber beabsichtigte Minderheitsschutz nicht ausreichend gewährleistet, wenn zuvor die Minderheitsliste durch Mehrheitsbeschlüsse erschöpft worden sei. Wegen der aus seiner Sicht grundsätzlichen Bedeutung des Falles hat das LAG die Rechtsbeschwerde an das BAG zugelassen. (LAG, Beschl. v. 28.06.2024 – 9 TaBV 52/23; nrkr.)

Abstract: Wenn ein frisch gewählter Betriebsrat unmittelbar nach seiner Konstituierung kurzfristig nacheinander alle nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählten Mitglieder einer Minderheitsliste bis zur Erschöpfung dieser Liste abberuft und sodann mit einfachen Mehrheitsbeschlüssen durch Vertreter der Mehrheitsliste ersetzt, ist das trotz eines Quorums anzufechten, da der vom Gesetzgeber beabsichtigte Minderheitsschutz nicht ausreichend gewährleistet, wenn zuvor die Minderheitsliste durch Mehrheitsbeschlüsse erschöpft worden ist.

Zivilrecht

Nicht jede Demenz führt zur Unwirksamkeit eines notariellen Testaments
Geklagt hatte in einem Eilverfahren der Testamentsvollstrecker einer verstorbenen Frau, die keine pflichtteilsberechtigten Angehörigen hatte. Kurz vor ihrem Tod hatte die Neunzigjährige vor einem Notar ein Testament errichtet, mit dem sie dem Sohn einer Freundin ihr wertvolles Anwesen vermachte. Der Notar hatte in der Urkunde schriftlich festgehalten, dass nach seiner Auffassung bei ihr eine unbeschränkte Geschäfts- und Testierfähigkeit besteht. Der Testamentsvollstrecker ist hingegen der Meinung, die Seniorin sei bereits bei der Beurkundung nicht mehr fähig gewesen, frei zu entscheiden. Er legte Arztbriefe vor, aus denen eine „beginnende demenzielle Entwicklung“, eine „demenzielle Entwicklung“ und eine „bekannte Demenz“ der Frau hervorgingen. Mit seinem Eilantrag wollte er verhindern, dass der bedachte Sohn der Freundin das Haus erwirbt.
Die Kammer hat in ihrem Urteil festgestellt, dass es Sache des Testamentsvollstreckers ist, die Testierunfähigkeit der verstorbenen Frau zu beweisen. Dass ihm das im Hauptsacheverfahren gelingen kann, sahen die Richter als nicht überwiegend wahrscheinlich an. Bei den vorgelegten Unterlagen fehle es unter anderem an einer Einstufung des Grades der Demenz, ohne die keine verlässliche Aussage getroffen werden könne. Sie wies den Eilantrag daher ab. (Landgericht Frankenthal, Pfalz, Urt. v. 18.07.2024 – 8 O 97/24; nrkr.)

Abstract: Auch eine an Demenz erkrankte Person kann durchaus noch in der Lage sein, ein Testament wirksam zu errichten. Nicht jede Demenz führe automatisch zur sog. Testierunfähigkeit. Es komme vielmehr darauf an, ob sich die betreffende Person trotz ihrer Erkrankung noch ein klares Urteil über die Tragweite ihrer Anordnungen bilden könne und in der Lage sei, frei von Einflüssen Dritter zu entscheiden. Zu unterscheiden ist zwischen leichtgradiger, mittelschwerer und schwerer Demenz. Befindet sich die Erkrankung noch in einem leichtgradigen Stadium, ist regelmäßig noch nicht von einer Testierunfähigkeit auszugehen.

Digitaler Zivilprozess:
Neues Online-Verfahren wird erprobt Das Bundeskabinett hat den vom Bundesminister der Justiz vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit beschlossen. Der Bund schafft somit zum ersten Mal ein Reallabor für die Justiz. Der Entwurf sieht insbesondere folgende Regelungen vor: Eröffnung des Online-Verfahrens durch eine Klageeinreichung mittels digitaler Eingabesysteme: Die Rechtsuchenden sollen bei der Erstellung einer Klage durch Informationsangebote und Abfragedialoge unterstützt werden. Die digitalen Eingabesysteme sollen bundeseinheitlich als Bestandteil eines Bund-Länder-Justizportals für Onlinedienste bereitgestellt werden. Die Klage soll entweder über den herkömmlichen elektronischen Rechtsverkehr oder über eine Kommunikationsplattform erfolgen können. Die Anwaltschaft soll über die bestehende Infrastruktur des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) in die Erprobung einbezogen werden.
Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten vor den Amtsgerichten, die auf Zahlung einer Geldsumme (nach der aktuellen Streitwertgrenze bis 5.000 EUR) gerichtet sind, sollen erfasst werden. Die Landesregierungen sollen ermächtigt werden, durch Rechtsverordnung die Amtsgerichte zu bestimmen, die das Online-Verfahren im Echtbetrieb erproben.
Öffnungsklauseln im Verfahrensrecht der ZPO zur verstärkten Nutzung digitaler Kommunikationstechnik: Die allgemeinen Verfahrensregeln der ZPO sollen durch Erprobungsregelungen modifiziert und ergänzt werden, insbesondere durch erweiterte Möglichkeiten eines Verfahrens ohne mündliche Verhandlung, eine Ausweitung von Videoverhandlungen und durch Erleichterungen im Beweisverfahren. Die Verkündung eines Urteils im Online-Verfahren soll durch dessen digitale Zustellung ersetzt werden können.

Digitale Strukturierung:
Der Prozessstoff soll unter Nutzung von elektronischen Dokumenten, Datensätzen und Eingabesystemen digital strukturiert werden können. Insbesondere für sogenannte Massenverfahren (z. B. im Bereich der Fluggastrechte) sollen technische Standards und Dateiformate für die Datenübermittlung und eine ressourcenschonende Bearbeitung festgelegt werden.

Bundeseinheitliche Erprobung einer Kommunikationsplattform:
Die rechtlichen Grundlagen für eine neue Form der verfahrensbezogenen Kommunikation zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten sollen geschaffen werden. Anträge und Erklärungen können unmittelbar über eine Kommunikationsplattform abgegeben werden. Auch die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten durch die Parteien und das Gericht (z. B. bei Vergleichsabsprachen) und die Zustellung von Dokumenten über die Plattform sollen ermöglicht werden.

Kosten:
Die Gerichtsgebühren für das Online-Verfahren sollen im Vergleich zum herkömmlichen Zivilverfahren gesenkt werden, um einen wirtschaftlich attraktiven Zugang zum Recht für niedrigschwellige Forderungen zu schaffen.